Als
Volk, Nation oder transnationale Minderheit verkörpern sie das Gesicht des Elends,
der Ausstoßung oder derer, die nie dazu bereit oder imstande waren sich zu
integrieren. In zahlreichen Debatten und Programmen haben sich in den letzten
zwanzig Jahren die europäischen Institutionen, die Staaten und die NGOs mit der
Frage beschäftigt, wie „die Roma“ sich in die Mehrheitsgesellschaft eingliedern
lassen. Die vorherrschende essentialistische
Sicht hat dazu geführt, diese Familienverbände
zu ewigen Opfern oder Schuldigen zu stempeln. Doch in der Realität sind die Roma-Gesellschaften zum
Glück viel komplexer. In den Balkanländern wie auch anderswo sind Roma auf verschiedenen
Ebenen der Gesellschaft vertreten, auch unter den Künstlern oder Intellektuellen.
Nicht alle Roma in den
Balkanländern und Westeuropa sind also arm, und nicht alle Armen in diesen
Ländern sind Roma.
Trotzdem
scheinen die Roma mehr als jede andere Minderheit dazu prädestiniert, Opfer von
Ausgrenzung und Elend zu sein. Diese Verhältnisse, leicht zu beobachten und
auch durchaus real für die Betroffenen, die sie alltäglich erleben, sollen die
Konsequenz einer Lebensweise sein, die nicht mehr zeitgemäß ist. Das
Zigeunerleben, so reizvoll es auch sein mag mit seinen großen Festen, virtuosen Musikanten
und exotischen Tänzen, soll nicht nur das Genie, sondern auch die Tragik eines
ganzen Volkes beinhalten, das sich dadurch zu einer Paria-Existenz verurteilen würde.
Wenn aber ein Teil der
Roma in den Balkanländern in äußerst prekären Verhältnissen lebt, dann
sind die Ursachen nicht unbedingt in den Phantasievorstellungen einer Tradition
zu suchen, sondern eher in den Umwälzungen, von denen diese Region
heute geprägt ist. Die Roma des Kosovo,
die im ehemaligen Jugoslawien manchmal ausgezeichnete
Beschäftigungsmöglichkeiten hatten, waren bei den Konflikten um die Unabhängigkeit
die vergessenen Stiefkinder der internationalen Gemeinschaft. Die Konzentration auf die kosovarischen Serben und Albaner
drängte die dort lebenden Roma auf den Weg des Exils, nach Serbien, Mazedonien
oder Deutschland. Was Rumänien betrifft, so sind die Slums und Squats, die im
Umland italienischer und französischer
Metropolen aufgetaucht sind, nicht das Ergebnis eines traditionellen Nomadentums, sondern
eines abrupten politischen und wirtschaftlichen Wandels. Die Auflösung
der landwirtschaftlichen Staatsbetriebe nach dem Ende
des Kommunismus ließ viele Roma, die auf dem Land lebten, ohne Beschäftigung und
Einkommen dastehen. Anders als ihre rumänischen Nachbarn wurden sie
mehrheitlich von der Umverteilung der Ländereien ausgeschlossen. Als Reaktion
darauf, oder um sich „anzupassen“, entschloss sich eine kleine Minderheit – ungefähr zehn Prozent – zur
Auswanderung nach Westeuropa, wo sie sich je nach den Aufnahmebedingungen in
Notunterkünften, Squats oder Untermietverhältnissen niederließen.
Die
Ankunft dieser Migranten dürfte die Europäische Union und
den Europäischen Rat
dazu veranlasst haben, die von den Mitgliedsstaaten zu befolgenden Richtlinien
zur „Inklusion“ der Roma zu formulieren. Hinter den
offiziellen Verlautbarungen, dieser doch sehr besonderen Minderheit gleiche Rechte zuzusichern, ließ sich die Absicht erkennen, diese Bevölkerungsgruppen zu sedentarisieren, weil sie ansonsten die
natürliche Tendenz haben würden, Westeuropa
zu überfluten. Die einzelnen Länder, vor allem die osteuropäischen, verpflichteten sich dazu, die Diskriminierung der
Roma zu bekämpfen und für ihre lokale „Inklusion“ zu sorgen. Auch wenn diese
Maßnahmen gelegentlich Fortschritte
zeigten, dienten sie doch dem Ziel, die Roma in ihren Herkunftsländern
zu halten. Sie sollten zu Hause bleiben, um uns nicht massenhaft heimzusuchen.
Mit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Jahre 2007 geriet diese Politik in Widerspruch zum Prinzip der Freizügigkeit, das deshalb durch bestimmte Maßnahmen eingeschränkt
wurde. Die Hauptländer Westeuropas dehnten für Zuwanderer aus diesen beiden
Ländern die Übergangsfrist, die den Zugang zum Arbeitsmarkt
einschränkt, auf die von der EU vorgesehene Höchstdauer von sieben Jahren aus. Die Niederlande,
Großbritannien und
Deutschland wurden sogar, wenn auch erfolglos, bei der Kommission vorstellig,
um diese Regelung zu verlängern. Zum Vergleich: Bei der vorangegangenen
EU-Erweiterungsphase, die zehn Länder, also eine sehr viel größere Zahl von
Arbeitnehmern, betraf, wurden diese Maßnahmen trotz
aller Propaganda, wie sie vor allem in Frankreich
mit der Angst vor dem „polnischen Klempner“ betrieben wurde, von den westeuropäischen Staaten nur für einen Zeitraum von höchstens
zwei Jahren angewandt.
In Frankreich
dienten die rumänischen Roma (die unter den nach 1990
eingewanderten Roma die übergroße Mehrheit
darstellen) vor
allem als
politisches Alibi für eine künstliche
Wiederherstellung
der
staatlichen Autorität, wenn diese in Frage gestellt wurde. Bei meinen
Recherchen habe ich festgestellt, dass unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy immer dann, wenn die Medien das Versagen der Polizei im Kampf gegen den Drogenhandel kritisierten, die Roma-Frage hervorgeholt wurde, zusammen mit unbelegbaren
Statistiken zur Delinquenz von Rumänen in der Pariser Region.[1] Diese Bevölkerungsgruppen waren
auch Gegenstand besonderer Verwaltungsmaßnahmen,
die einer bestimmten amtlichen Terminologie entsprechen. Das jüngste
Beispiel, diesmal veranlasst von der sozialistischen
Regierung,
ist der Runderlass vom 26.
August 2012, der die Notunterkünfte armer Bevölkerungsgruppen aus
Osteuropa – die zwar in der großen Mehrzahl, aber nicht ausschließlich aus Roma
bestehen – als „illegale Lager“ bezeichnet und dadurch explizit mit Nomadentum
und Marginalität verbindet. Derartige Vorstellungen schlagen sich in Verwaltungsakten
nieder, die dafür sorgen, dass diese Gruppen ständig
umgesiedelt werden und dadurch
keinerlei medizinische und amtliche Betreuung erhalten. Diese Politik, die sich
unter der jetzigen Regierung
(der Linken) verschärft hat, widerspricht dem Prinzip der Schulpflicht, das
immerhin zu den Grundrechten gehört. Nach einer Studie des Collectif
Romeurope[2]
sind von den in Frankreich
lebenden Roma-Kindern im schulpflichtigen Alter nicht einmal die Hälfte
eingeschult. Der Hauptgrund ist nicht, dass die Eltern dagegen sind, sondern
dass viele Kommunen gleich welcher politischen Couleur die Anmeldung dieser
Kinder verweigern, damit sich keine Roma in ihrer Gemeinde dauerhaft
niederlassen.
Die Haltung der französischen Gesellschaft
gegenüber den rumänischen Roma-Migranten beruht auf der Vorstellung, dass deren Kultur jede „Integration“ verhindert. Aber was wissen wir
wirklich über die Entwicklung dieser Migration in Frankreich?
Die
ersten Roma, die in den Jahren 1990 bis 2000 aus dem Banat oder Transsilvanien kamen, gliederten
sich relativ gut ein. Durch die Ankunft von geringer qualifizierten Roma aus
weniger entwickelten Regionen begannen diese Gruppen stärker sichtbar zu
werden. Da letztere keine Beschäftigung fanden, verlegten sie sich auf
kleingewerbliche Tätigkeiten
wie Blumenverkäufe, auf Bettelei usw. Durch den fehlenden Zugang zum regulären
oder schwarzen Arbeitsmarkt und
zu Wohnraum konnten Vermittler daraus Kapital schlagen, indem sie Plätze auf
ihnen gar nicht gehörenden Grundstücken vermieteten, Geld zu Wucherzinsen
verliehen usw. Fälle der Ausbeutung von Erwachsenen und
Kindern traten bei Roma genauso wie bei Nicht-Roma auf. Mehr
als mit einem
vermeintlichen kulturellen Schicksal, das die
„umherziehenden Zigeuner“ dazu verdammen soll, die Parias der französischen Gesellschaft zu bleiben,
hängen die Probleme ihrer „Integration“ mit den
bürokratischen Schwierigkeiten der Eingliederung auf
dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zusammen. Tatsächlich gab es in Spanien, das mehr als
60.000 Roma aufgenommen hat (dreimal so viele wie Frankreich), weder
Barackensiedlungen noch einen politischen Stimmenfang auf Kosten dieser
Bevölkerungsgruppen. Der Grund dafür liegt in bilateralen Abkommen, die nach
1996 mit Rumänien vereinbart wurden und spanischen Arbeitgebern, vor allem in
der Landwirtschaft, die Möglichkeit gaben,
rumänische Saisonarbeiter zu beschäftigen. Aus diesem
Pendelverkehr entwickelten sich nach und nach mittelfristige Niederlassungen,
aber anders als in Frankreich
war die Mehrzahl der betreffenden Personen schon beruflich eingegliedert. Diese
weniger ausgebildeten Arbeitskräfte
traten deshalb
nicht als besondere Problemgruppe in Erscheinung.
Statt nach phantasierten
kulturellen Ursachen zu suchen, sollten wir uns lieber fragen: Warum taucht die
„Roma-Frage“ gerade jetzt wieder auf?
Über die wirtschaftlichen und sozialen
Schwierigkeiten hinaus, mit denen ein Teil dieser Minderheit konfrontiert ist,
sind die Roma unfreiwillig zu einem Indikator für tieferliegende Probleme
geworden, von denen alle europäischen Länder betroffen sind.
Hat
die Tatsache, dass es in den Balkanländern für Roma praktisch unmöglich ist, in
öffentlichen Krankenhäusern behandelt zu werden, nur mit ihrer Ablehnung zu
tun? Kündigt sie nicht die Privatisierung des Gesundheitswesens
für diese Gesellschaften insgesamt an?
Gleiches gilt für das Bildungswesen – die Diskriminierung der Roma in fast ganz
Europa wirft auch hier Fragen auf. Drückt sich darin das Bedürfnis nach Sündenböcken
aus, um von politischen Misserfolgen gegenüber den unteren Klassen abzulenken?
Entspricht sie einer immer massiveren Ablehnung der Idee einer multiethnischen Gesellschaft?
Wir
müssen den Spiegel der Roma-Frage zerschlagen, wenn wir gemeinsam über die Zukunft unserer Gesellschaft entscheiden wollen.
[1] Diese
Statistiken bezogen sich auf die Anzeigen, nicht auf die Verurteilungen. Es
lässt sich auch nicht feststellen,
wie groß die Anzahl der Wiederholungsdelikte
ist, ob es sich also um Serientäter handelt oder um einzelne Straftaten, die
von unterschiedlichen Personen begangen wurden.
[2] Einsehbar unter www.romeurope.org